Es ist eine sehr emotionale Begegnung mitten auf dem Einsiedler Klosterplatz. Von hier aus sind Kathys Vorfahren vor über 130 Jahren ausgewandert. «Meinem Mann Mark ist es zu verdanken, dass ich heute hier stehen kann. Er hat im Internet ‹Bike Switzerland› entdeckt, auf deren Touren Einsiedeln einer der Anfahrtsorte ist.» Am Dienstag, 5. Juli, nachmittags um vier Uhr treffen wir beim Marienbrunnen die 12-köpfige Biker-Gruppe auf ihrer «Challenge-Tour», die 580 Kilometer quer durch die Schweiz führt. Wir erkennen Kathy und Mark, das sportliche Paar aus den Vereinigten Staaten, sofort an ihren Schweizer Leibchen. Kathys Augen leuchten… und plötzlich kullern Tränen über ihre Wangen. «Ich kann es kaum in Worte fassen, es ist einfach wunderbar. Seit ich ein Kind war, seit über fünfzig Jahren, träume ich davon, einmal an den Ort zu kommen, von wo meine Vorfahren ausgewandert sind. Die Emotion ist überwältigend. Und ich hab das Gefühl, hierher zu gehören.»
Kathy, ehemalige technische Laborantin an einem Louisviller Spital, führt seit ihrer Pensionierung zusammen mit ihrem Ehemann einen Bauernhof ausserhalb von Louisville, in Shelby County. Seit einigen Jahren bewirtschaften sie dort 4,5 Hektaren Land und pflanzen Tomaten, Mais, verschiedenste Gemüse wie Swiss Chard (Krautstiel) und fünf bis sieben verschiedene Sorten Kartoffeln an. Als Subskriptionsangebote sowie auf dem samstäglichen Farmer Market verkaufen sie ihre vielfältigen Produkte. «Ich bin mit Leib und Seele Bäuerin», sagt Kathy.
Sie steht so in den Fussstapfen ihres Ururgrossvaters: «Anton (Andy) Jacob Kaelin, «Grundmärtels» vom Willerzell, wanderte im Jahre 1880 als ältester Bauernsohn aus einer 12-köpfigen Familie nach Louisville aus. «Und ich bin mit Ländlermusik aufgewachsen, den Swiss Hops in der berühmten Swiss Hall. Ich glaube, ich habe den Polka schon mit der Muttermilch aufgenommen!»
Zum Abschluss ihrer Schweizer Tour werden Kathy und Mark übers Wochenende, mit dem Zug, nochmals für zwei Tage nach Einsiedeln reisen. «Es ergibt sich für mich die Gelegenheit, Kaelin-Verwandte hier in der Gegend zu besuchen und kennenzulernen und die Gegend um Willerzell zu erkunden. Und wer weiss, vielleicht finde ich doch noch irgendwo einen Hinweis auf meine Oechsle-Familie!» Von den zweiten Einsiedler-Wurzeln, der Verwandtschaft um Grossvater George Oechsle, weiss sie nämlich absolut nichts. Das Haus ihrer Kaelin-Vorfahren im Willerzell wird sie allerdings nicht mehr finden, das weiss Kathy. Es ist nämlich eines jener Gehöfte, die dem Sihlsee weichen mussten.
Kathy bindet sich das rote Tüchlein mit dem Edelweiss-Muster wieder fester um den Kopf und setzt den Helm auf. Noch warten an diesem Nachmittag der heutige Schlussspurt über den Etzel nach Rapperswil. «Ohne einen Schluck Wasser vom Brunnen hier auf dem Klosterplatz kann ich aber nicht weg! Ich wusste immer, dass es in Einsiedeln schön ist. Aber so schön hab ich’s mir nicht erträumt!» Sagts und tritt mit sicherem Schritt in die Pedalen - auf den schmalen Reifen in Richtung Sihlsee und über den Willerzeller-Viadukt. Kathy und ihr Gatte Mark werden am Wochenende nochmals nach Einsiedeln kommen. Sie wollen mehr vom Dorf sehen, und Kathy sucht weiter nach ihren Wurzeln. Ein absoluter Glücksfall bringt sie zu ihrer Familie Oechslin - nicht Oechsle -, von der sie keine Ahnung hatte!
Annemarie Fässler, die leidenschaftliche und kompetente Familienforscherin aus dem Alpthal, interessiert sich schon seit langem fürs Projekt und legt sich richtig ins Zeug. Sie stöbert und sucht in Dokumenten im Staatsarchiv in Schwyz und auf ancestry.com und findet Erstaunliches. Sie kann tatsächlich den Stammbaum des Trachslauers Joseph-Michael Oechslin ab 1807 aufzeichnen, von dem Kathy abstammt.
Wir werden sie mit einem unglaublichen Fund überraschen! Spontan kontaktiert die Einsiedlerin Ingrid Fässler-Heinzer aufgrund des vorliegenden Stammbaums einen Oechslin-Verwandten in Einsiedeln - Paul. Das Treffen wird zu einem emotionalen Moment: ein «neuer» Cousin für Kathy! Eine «neue» Cousine für Paul! Auch der Besuch bei den Kaelin-Nachkommen - den «Grundmärtels» aus dem Willerzell - ist sehr bewegend und lustig überdies. Kathy erkennt in den hellen, blauen Augen von Christian Marty in Wollerau die verwandtschaftliche Nähe. «Die Augen sind wie die meiner Mutter», meint sie.
Kathy fliegt mit vielen Erinnerungen und dem Wissen um «neue» Verwandte im Klosterdorf Einsiedeln zurück nach Louisville. Könnte ihr Beispiel der aktiven Familienforschung in der alten Heimat für weitere Louisville-Einsiedler(innen) Schule machen?