Die Fünfte Schweiz war seine Lebensaufgabe.
Leo Schelbert hat wie kaum ein anderer Historiker die Geschichtsschreibung der Schweizer Auswanderung geprägt. Seine Forschung zur postkolonialen Forschung gilt als Pionierleistung. Nun ist er 93-jährig in den USA verstorben.
Leo Schelbert war eine Ausnahmeerscheinung unter den Schweizer Historikern. Wie wohl kein anderer Vertreter der Zunft machte er das weite Feld der Schweizer Auswanderungsgeschichte und damit die weltweite Präsenz der Schweizerinnen und Schweizer zu seiner Lebens- und Forschungsaufgabe. Er war der festen Überzeugung, dass die offizielle Schweiz die Fünfte Schweiz mit ihren über 776 000 Mitgliedern wie eine Art 27. Kanton wahrnehmen sollte.
Mit seiner Forschungsarbeit ging Leo Schelbert zeitlebens einen besonderen Weg. Für ihn waren die persönlichen Zeugnisse, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte der Auswandernden zentral. Er ging nicht von Theorie aus, sondern vom individuellen Schicksal, vom Besonderen der einzelnen Erzählung, die für ihn immer auf das Allgemeine verwies. Er formulierte seine Forschungsresultate so, dass sie über den Kreis der Experten hinaus verstanden wurden – und zwar in deutscher wie auch in englischer Sprache.
Leo Schelbert wurde 1929 als viertes von elf Kindern im sanktgallischen Kaltbrunn geboren. Er arbeitete zuerst als Gymnasiallehrer, bevor er an die Columbia Universität in New York ging, um amerikanische Geschichte mit Schwerpunkt Einwanderung zu studieren. Nach seiner Promotion lehrte er von 1963 bis 1969 an der Rutgers University in Newark, New Jersey. Nach zwei Forschungsjahren in der Schweiz folgte er 1971 dem Ruf an die Universität von Illinois in Chicago.
In den USA erarbeitete er sich einen Ruf als innovativer Historiker, der seinen Blick stets auf globale Phänomene richtete und multiperspektivisch arbeitete. Mit Blick auf die seit gut zehn Jahren etablierte postkoloniale Forschung in der Schweiz müssen seine Werke als Pionierleistungen betrachtet werden. Schon vor einem halben Jahrhundert hat er entsprechende Ansätze verfolgt. So hat er herausgearbeitet, dass Menschen aus der Schweiz in der Mission, im Handel oder im Soldwesen in vielen Teilen der Welt in koloniale Systeme verstrickt waren und davon profitiert haben.
Stets war es ihm ein Anliegen, Schicksal und Weltanschauungen indigener Nationen mit einzubeziehen und ihre historischen Erfahrungen ernst zu nehmen. Dem Aufbau der Neuen Welt in den USA durch Siedler aus Europa setzte er in seinen Publikationen die Zerstörung der indianischen Welten entgegen, die in der erinnerungskulturellen Historiografie der Dominanzgesellschaft oft ausgeblendet wurde.
Leo Schelbert engagierte sich während vieler Jahre als Präsident der Swiss American Historical Society (SAHS), als Redaktor des «SAHS-Review» sowie Herausgeber der umfangreichen SAHS-Bücherreihe und hat so massgeblich zum gegenseitigen Verständnis zwischen zwei verschiedenen, und doch verwandten Kulturen beigetragen. Er war Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher wie «Alles ist ganz anders hier. Schweizer Auswanderungsberichte des 18. und 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten», «Von der Schweiz anderswo. Historische Skizze der globalen Präsenz einer Nation», «Historical Dictionary of Switzerland» sowie Co-Autor von «Nach Amerika. Lebensberichte von Schweizer Auswanderern».
Mehr als die Hälfte seines Lebens lebte und lehrte Leo Schelbert in den USA. Einbürgern liess er sich trotzdem nicht. 2006 wurde er von der FDP Schweiz zum «Auslandschweizer des Jahres» gewählt. Gleichwohl verstand er sich nie als «Auslandschweizer», sondern als ein im Ausland tätiger Schweizer. Ende März 2022 ist Leo Schelbert 93-jährig in den USA verstorben. Er hinterlässt seine Ehefrau und vier Kinder mit Familien in den USA, und in der Schweiz seinen jüngsten Bruder mit Frau.
Susann Bosshard-Kälin und Manuel Menrath