Das kleine Haus in The Highlands von Louisville, das wir im Internet unter airbnb.com aufstöbern, gehört einer gewissen Brigid, ohne Nachnamen, und ich schreibe ihr. Prompt kommt die Antwort: «Bei deiner E-Mail-Anfrage erwähntest du Einsiedeln. Da kommen meine Leute her, ging’s mir durch den Kopf. Und als ich dich googelte, sah ich, dass du auch eine Kaelin bist, wie ich! Eigentlich vermieten wir das Haus, in dem David und ich mit unserem Sohn Graham leben, höchstens über die Weekends und während der Kentucky-Derby. Aber für Einsiedler machen wir eine Ausnahme und geben euch das Haus.»
Brigid hat nebst Jazzpiano auch Politik studiert und ist heute eine bekannte Performerin - «the readhead with the accordion», also der Rotschopf mit dem Akkordeon (www.brigidkaelin.com). Sie leitet die «Brigid Kaelin Band», spielt Piano, Cello, Gitarre und singende Säge und ist eine vielseitige Künstlerin: Komponistin, Songwriterin, Musiklehrerin und musikalische Geschichtenerzählerin. «Mein Vater Kenneth Martin Kaelin hat katholisch-schweizerische Wurzeln, meine Mutter Patsy Speevack jüdisch-russische. Ich erinnere mich, dass ich als Kind sonntags mit meinen Cousins in den Swiss Park ging. Blue Grass Bands spielten an diesen Picknicks - die Erwachsenen vergnügten sich ausgiebig mit Spielen und Trinken. Das ist meine einzige Erinnerung an Swissness. Aber ehrlich gesagt, machte ich keine Verbindung zwischen der Swiss Hall und meinen Schweizer Wurzeln - im Park war es einfach lässig.»
Brigid Kaelin schwärmt von ihrer Tournee durch Schottland, von der sie eben zurückgekehrt ist, vom englischen Musiker Elvis Costello auch, mit dem sie schon etliche Male spielen durfte. «Ich schreibe selbst viele Songs und habe etliche Alben herausgegeben. Ich spiele auch in anderen Bands mit: Blue Grass, Country, Jazz, aber am liebsten Countrymusik. Damit lassen sich Geschichten erzählen, das gefällt mir. Blue Grass ist hier in Kentucky daheim, ich wuchs damit auf. Und als ich für ein paar Jahre in New York lebte, spielte ich in einer irischen Band. Die alte irische Musik ist ähnlich wie Blue Grass - auch sie erzählt diese Geschichten, einfach in einem anderen Rhythmus.
Der Bezug zurück nach Einsiedeln interessiert mich. Wir Amerikaner vergessen oft, dass wir Einwanderer-Vorfahren haben. Und dass ihr aus der Alten Welt nach uns fragt, finde ich grossartig. Ich hätte nie darüber nachgedacht, ob ich noch Verwandte in Einsiedeln haben könnte. Warum gingen sie weg? Keine Ahnung! Swissness habe ich keine mehr. Ich wusste einfach immer, dass Kaelin schweizerisch ist.
Oft meinen die Leute wegen meiner roten Haare, ich sei irisch. Und im Irischen gibt es irgendein Wort, das ähnlich tönt wie Kaelin, ein gälisches Wort! Aber ich weiss, ich bin Schweizerin und aus Einsiedeln … in der Nähe von Zürich. Von meinem Onkel habe ich kürzlich erfahren, dass Johann Martin Kaelin und Katherina als verheiratetes Paar nach Amerika zogen. Das waren die Urgrosseltern meines Vaters und meines Onkels Anthony.
Ich bin also die fünfte Generation dieser Kälin-Line hier in den USA. Mein Urgrossvater hiess Anton Martin und er heiratete in Louisville eine eingewanderte Einsiedlerin, Balbina Fuchs. Ich sehe da allerdings noch nicht durch. Es ist alles sehr kompliziert. Und wir sind alle so beschäftigt und haben wenig Zeit für familiäre Nachforschungen. Aber was ihr macht, ist eine grosse Geschichte. Danke!»
Brigid und ihre Eltern waren drauf und dran, nach Einsiedeln zu reisen. Am 11. September 2001 wollten sie via New York nach London fliegen, für eine dreiwöchige Europareise. «Auf dem Plan standen für mich die Schweiz und Einsiedeln. Wir kamen nur bis nach Newark an diesem Morgen. Ich weiss noch, mein Vater fotografierte den Rauch über dem World Trade Center aus der Ferne, weil wir erst dachten, es sei wohl Feuer in der Küche des Restaurants ganz zuoberst ausgebrochen.
Und dann sahen wir den zweiten Flieger in die Türme rasen. Traumatische Bilder! Wir waren alle unter Schock. Ich konnte danach Jahre lang nicht mehr fliegen. Irgendwie gelang es uns, nach 36 Stunden per Zug und Bus über Washington, Baltimore, Pittsburgh, Columbus, Cincinnati nach Louisville heimzukehren … Wenn ich 40 bin, will ich nach Wien und Einsiedeln!» Brigid Kaelin will dann nach ihren Wurzeln suchen, «aber auch zum Musizieren und Singen. Ich kann sogar jodeln, Cowboy-jodeln, allerdings. Vater sagt: Brigid, du könntest doch den Schweizer Jodel lernen! Ich bin neugierig, was meine Verwandten in Einsiedeln tun. Wir sind so weit weg vom Ort, wo wir herkommen. Generationen sind irgendwie verloren gegangen. Was könnte eine Brücke werden? Vielleicht ein Schwesternstadt-Projekt Louisville - Einsiedeln? Oder Sommerkurse für Studentinnen und Studenten - hüben wie drüben. Ja, wir könnten ein konkretes Projekt aufgleisen. Es gilt, nicht nur die Geschichten von früher zu erzählen, sondern auch die Geschichten von heute!»