Familienbibel der Familie Kaelin-Liebert

Karl Kaelin kam 1865 von Einsiedeln nach Louisville. Als er eine Familie gründete, kaufte er sich eine luxuriös ausgestattete Familienbibel. Die Bibel ist immer noch da, gezeichnet von Generationen.

Bücher sind ein Speicher für Vieles. Sie transportierten Sätze, Ideen, Geschichten. In ihrer materiellen Form können sie aber auch ein Behälter für Objekte sein. Fotografien, Totenbilder, ja gar getrocknete Pflanzen lassen sich darin aufbewahren. Bücher trotzen der Zeit und können zu Erinnerungsgegenständen werden. Die Familienbibel der Kaelin-Liebert Familie ist ein solcher Erinnerungsgegenstand.

Wir sitzen im Wohnzimmer von Barbara Liebert Carrico. Ihr Bruder Jordan Liebert erzählt uns von der Geschichte ihrer Familie. Karl Kaelin war sein Urgrossvater. Er kam 1865 nach Louisville und heiratete einige Jahre später Josephina Meinrada Schoenbaechler, ebenfalls aus Einsiedeln. Zusammen hatten sie zehn Kinder. Die meisten davon heirateten innerhalb der lokalen deutschsprachigen Gemeinschaft. Rose, Barbaras und Jordans Grossmutter, heiratete Henry Richard Liebert, den Sohn einer deutschen Milchfarmerfamilie, welche um 1850 von Hessen nach Louisville gekommen war. Mehrere Heiraten innerhalb bestehender Verwandtschaftsverhältnisse machen die Erzählung kompliziert. Selbst Barbara bekundet Mühe mit der Orientierung im genealogischen Dickicht, genauso wie mit dem holprigen Englisch ihrer Gäste aus der Schweiz. Doch Jordan behält stets den Überblick.

Jordan zeigt uns die Familienbibel. Es ist ein imposantes Buch, mit schweren Holzdeckeln und metallenen Beschlägen. Seine Grossmutter Rose, eine sehr religiöse Frau, wie er sagt, habe die Bibel von ihrem Vater geerbt, und ein Leben lang (sie starb 1983 mit 103 Jahren) in Ehren gehalten. Über eine Tante, welche vor ein paar Jahren in ein Altersheim zügeln musste, sei die Bibel nun zu ihm gelangt. Das Buch ist eine Fundgrube. Zwischen den Seiten finden sich alte Fotografien, Andachtsbilder und immer wieder auch getrocknete Blätter und Blumen. Die Pflanzen seien eine Art «memento», erklärt Jordan. Von einer Beerdigung, einer Hochzeit oder einem anderen wichtigen Anlass habe man früher manchmal ein Pflänzchen mitgenommen und dann zur Erinnerung zwischen die Seiten eines religiösen Buches gelegt.

Das Buch gibt uns mannigfache Hinweise auf das Leben der Schweizer Einwanderer von früher. Es erzählt zum Beispiel von der Assimilation. Auf dem Buchdeckel liess der erste Besitzer seinen Namen eingravieren, und zwar in der amerikanisierten Schreibweise «Chas Kaelin» und nicht in der europäischen «Karl Kälin». Der Bibeltext ist in Deutsch, die Bildunterschriften aber in Englisch. Das Buch erzählt auch von der Wichtigkeit der Kirche für das Leben vieler katholischer Einwanderer. Es befindet sich darin beispielsweise ein vorgedruckter Trauschein, bei welchem nur noch die Lücken auszufüllen waren sowie Platz, um Fotografien einzukleben und Geburten, Todesfälle und anderes zu notieren. Die Botschaft: Katholisch sein sollte man nicht nur im sonntäglichen Gottesdienst, sondern auch im Kreise der Familie, und zwar ein ganzes Leben lang. Katholisch von der Wiege bis zur Bahre. Und die Familie sollte diesen Weg stützen.

Die Familienbibel wirkt aus der Zeit gefallen, wie sie da, aus ihrem ursprünglichen kulturellen Kontext herausgelöst, auf dem Stubentisch liegt. Die Kaelins und Lieberts sind längstens Amerikaner geworden. Deutsch haben Barbara und Jordan nie gelernt. Und doch möchten sie sich von der Bibel nicht trennen. Als Erinnerungsstück hat sie immer noch eine soziale Funktion. Sie ist eine Zeitmaschine geworden, welche den heutigen Generationen ihre eigene Vergangenheit vergegenwärtigt.

Familie Kaelin-Liebert

  • Barbara Liebert Carrico (*1935)
  • Jordan Liebert (*1941)

Grosseltern

  • Henry Richard Liebert (gest. 1943)
  • Rose Kaelin (1880-1983)

Urgrosseltern

  • Karl «Chas» Kaelin, kam 1865 nach Louisville
  • Josephina Meinrada Schoenbaechler, kam 1866 nach Louisville
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