Gilbert Kaelin (80) ist Farmer mit Leib und Seele. Stolz zeigt er uns seine 60 Rinder, die Wiesen und Felder, die Werkstatt und sein halbes Dutzend Gewächshäuser. Die weitläufige Farm mit dem kleinen See mittendrin stösst an diejenige seines Bruders Lawrence (90). Sie liegt fünfzehn Meilen ausserhalb der Stadt Louisville, in Crestwood. «Wir mussten 1963 aussiedeln, weil sich die Stadt immer mehr ausdehnte.
Während Jahrzehnten lebten wir in St. Matthews, zusammen mit den Zehnders, Oechslins, Bisigs auf ihren Farmen. Schlussendlich waren wir an der Kaelin Drive die letzte Bauernfamilie. Auch wir mussten weg aus St. Matthews, der ‹Farm-Town›, dem ‹Kartoffelland›, wie die Gegend im Volksmund hiess.»
Gilbert ist der Jüngste aus einer sehr musikalischen Familie. Alle Kinder und der Vater spielten Akkordeon. «Keiner von uns hat je Noten lesen gelernt. Unsere Mutter, Catherina Kamer, entstammte einer Einwandererfamilie aus Sattel. Sie konnte wunderbar jodeln.»
«‹The Kaelin’s› waren als Familienband weit herum bekannt. Sie spielten an Hunderten von Hochzeiten und an Festivitäten aller Art in Louisville zum Tanz auf. Und im Swiss Park spielten wir jahrzehntelang jeden anderen Samstagabend unsere Schottisch und Polkas. Die Leute kamen in Scharen in die Swiss Hall. Das ‹Herz der Schweizer› in Louisville war dann jeweils zum Bersten voll.»
Das Farmerleben, die Musik und nicht zu vergessen die Kirche spielten bei den Kaelins eine wichtige Rolle: «Wochentags molken wir unsere Kühe auf dem Hof um fünf Uhr in der Früh. Aber sonntags mussten wir alle zuerst in die Frühmesse um 05.15 Uhr und dann heim zum Melken. Dabei waren wir ja meistens nach unseren samstäglichen Musikengagements erst gegen ein Uhr ins Bett gekommen… short nights! Mein älterer Bruder durfte dann jeweils etwas früher aus der Kirche und besorgte uns frische Brötchen beim Schweizer Bäcker in der Nähe - dem besten in ganz Louisville! Die Delikatessen durften wir aber erst nach dem Melken bei einem Glas Milch geniessen.»
Gilbert Kaelin hat vier erwachsene Kinder - Mike (S.120) lebt in New Hampshire, ist Präsident zweier Schweizer Clubs und ein begeisterter Ländlermusiker, Tim lebt in Florida, Judy auch, sie ist Tanzlehrerin. Sharon wohnt in der Nähe ihres Vaters, in St.Matthews. Sie hilft ihm im Haushalt und im Garten. Von seiner Frau hat er sich schon lange getrennt - Freunde seien sie aber noch immer, ergänzt er schmunzelnd.
Die Gegend seiner Vorfahren kennt er. «In Einsiedeln war ich einmal, 1973, auf einer Europareise, in meinen allerersten Ferien überhaupt. Mein Bruder Lawrence und die Söhne Mike und Tim übernahmen die Kühe, das Melken und die Farm. Joe Birchler, auch aus einer Einwandererfamilie aus Louisville, war unser Reiseleiter. Wo meine Grosseltern genau gewohnt hatten, fand ich nicht heraus. Aber ich sah Frauen in Willerzell, die aussahen wie meine Schwestern! Die Verständigung war allerdings schwierig. In den Siebzigern sprachen noch relativ wenige Leute in der Gegend Englisch und wir kein Deutsch. Und so assen wir oft Wienerschnitzel und Pommes Frites - das erkannten wir bald auf den Speisekarten! An die vielen prächtigen Blumenkistchen an den Häusern erinnere ich mich, an die Kühe auch… fast alles Brown Swiss.»
Bauer sein und musizieren, das ist mein Leben. Ich fühle mich als Vollblut-Schweizer und bin sehr stolz darauf, obwohl ich kein Schweizerdeutsch spreche und keinen Schweizer Pass habe. Es hiess hier in Louisville immer, die Schweizer seien gute, ehrliche Leute. Ich glaube es ist so; ich habe 95 Prozent unserer Kühe nur übers Telefon verkauft. Man konnte sich auf uns verlassen, das war unser Image.»
Der Grossvater, Anton Jacob Kaelin, war zusammen mit seinem Zwillingsbruder Karl der Älteste auf einem Bauernhof mit zehn Kindern; die Familie hatte den lokalen Übernamen «Grundmärtels». Anton Jacob wanderte im Oktober 1880 von Willerzell nach Louisville aus. In seinem wenigen Gepäck hatte er eine Kuhglocke, die heute in der dritten Generation auf der Farm von Gilbert einen Ehrenplatz hat. «Als Kind verstand ich Grossvater kaum. Er konnte auch sechzig Jahre nach seiner Einwanderung in die USA nur wenig Englisch. Die Schweizer hier waren mehrheitlich unter sich und sprachen miteinander Deutsch. Und auch der Pfarrer, die Nonnen und Lehrerinnen sprachen Deutsch.» Gilbert erzählt, dass sein Grossvater zusammen mit seinen beiden Brüdern Johann Alois (Louis) und Joseph Isidor - sein Zwillingsbruder Karl blieb daheim - in einer grossen Gruppe von weiteren Einsiedlern nach Amerika herüber kam. «Die meisten von ihnen waren Milchbauern.»
«Den Emigranten war Arbeit und Land versprochen worden, wenn sie nach Amerika gingen. Von zuhause erzählte Grossvater kaum etwas, wir haben auch keinerlei Dokumente von damals. Wir wissen aber, dass er 200 Dollar für die Reise erhielt. Das war doch enorm viel Geld! Ich glaube, die wollten die Leute loswerden. Grossvater war ein guter Mensch, a good guy. Eine Ausbildung hat er nie genossen, der kleine Mann mit Schnauz, der nur etwa 120 Pfund wog. Er verdiente 8 Dollar im Monat, als er hier in Amerika zu melken begann. Heute verdienen sie das in einer halben Stunde. Er arbeitete zuerst für einen Bauern, bis er später einen Hof pachten konnte.
Grossvater hatte schon daheim ein Auge auf ein Mädchen aus Willerzell geworfen, auf die Anna Catharina Schönbächler - sie ist wenig später und auf eigene Faust nach Amerika zu ihrem Verlobten gereist. Hier haben sie geheiratet und zusammen 14 Kinder grossgezogen. Mein Vater Albert Anton war der Älteste in der zweiten Kaelin-Generation, der dann eine 29-Hektaren-Farm für seine ebenfalls grosse Familie in St. Matthews erstehen konnte.»
Gilbert Kaelin (*1935)
Grosseltern
- Anton (Andy) Jacob Kaelin (1860 – 1945) Willerzell und Louisville;
Sohn von Joseph Isidor Kälin (1829 –1879) und Anna Catharina Schönbächler (1836 – 1920) «Grundmärtels», Willerzell - Anna Catharina Schoenbaechler (1866 – 1927) Willerzell und Louisville; Tochter von Benedikt Schönbächler-Ruhstaller (1827 – 1878) «Stöckgädlers», Bezirksrat, und Barbara Schönbächler-Ruhstaller (1830 – 1914) Willerzell
Eltern
- Albert Anton (Andy) Kaelin (1890 – 1963) Louisville
- Catherina Mary Kamer (1894 – 1997) Sattel und St. Matthews