Dank der rot-weissen Fähnchen in den Blumenrabatten, finden wir ihr Zuhause am Southbridge Court in Louisville auf Anhieb. An der Haustüre empfängt uns eine liebenswürdige, gepflegte und energiegeladene Dame. Mary Rose soll tatsächlich 95 sein: Unglaublich! Sie hat den Tisch für ihre Gäste aus der Schweiz festlich gedeckt und Sandwiches, Cookies sowie Fruchtspiesschen bereitgestellt - samt rot-weissen Servietten. Mit dabei sind an diesem Nachmittag neben ihrer Tochter Mollie auch ihre Neffen Dan, Jim und David sowie Su Ann Schoenbaechler, die älteste Tochter von Bruder Edward.
«Ich hatte mir immer gewünscht, dass meine Mutter Anna Mary und mein Vater Joseph Martin Schoenbaechler einmal nach Einsiedeln hätten reisen können, zu den Cousinen und Cousins und den vielen Verwandten im Birchli und im Gross. Aber mit zehn Kindern war das unmöglich. Woher hätten sie auch das Geld nehmen sollen für eine so teure Reise?»
Mary Rose ist die Zweitjüngste der Familie und das letzte noch lebende Kind der grossen Schoenbaechler-Sippe. «Ich weiss natürlich nicht so viel über meine Vorfahren wie die älteren Geschwister, die leider verstorben sind und teilweise Grossvater Jakob noch gekannt hatten.»
Mary Roses Vater war knapp drei Jahre alt, als er mit seinen Eltern via Le Havre nach Louisville kam. «Wie sein Vater Jakob-Philipp, war mein Grossvater von Beruf Schmied. Erst wohnte Johann Jakob mit seiner Frau und dem kleinen Sohn Joseph Martin an der Schmiedenstrasse in Einsiedeln. Dann aber packte den 31-jährigen Mann das Auswandererfieber. Er wollte weg… nach Amerika, ins Land, wo Milch und Honig fliessen!»
Johann Jacob begann in Louisville als Schmied zu arbeiten, konnte aber auch seine Kenntnisse in der Viehzucht sehr gut gebrauchen. «Grossvater passte sich an und lebte sich bei den vielen Einsiedlern, die schon in der Gegend waren, den Kaelins, Schoenbaechlers, Gyrs und Birchlers, schnell ein. Als mein Vater neunjährig war, kam seine Schwester Mary Anna (1886 - 1925) zur Welt. Dann wurde Grossmutter Catharina schwer tuberkulosekrank. Rettung erhoffte man sich von der Heimatluft.»
Und so reiste die Kranke im Mai 1895 mit ihrer Tochter in die Schweiz. Leider half auch die Einsiedler Luft nicht. Im Oktober des gleichen Jahres, auf dem Ozean-Dampfer zurück in die Vereinigten Staaten, verschlechterte sich ihr Zustand. In New York angekommen, wurde sie mit der Ambulanz ins St.-Vincent-Hospital gebracht - aber noch unterwegs im Auto verstarb sie, erst 38-jährig. «Grossvater wurde von einem New Yorker Leichenbestatter vom Tod seiner Gattin in Kenntnis gesetzt. Es muss grauenhaft gewesen sein für die neunjährige Mary Anna, die mit der toten Mutter im Sarg die 28 Stunden im Pferdewagen heimfahren musste. Grossvater war ein gebrochener Mann. Er blieb mit seinen zwei Kindern allein, heiratete nicht mehr.
Mit den Verwandten in der Schweiz führte er keine Korrespondenz.» Sein Sohn Joseph Martin fühlte sich wohl in Amerika, war hoffnungsvoll und lernte als junger Mann Mary Baumeler kennen, die - ein Jahr jünger als er - wohl ungefähr zur selben Zeit wie er mit ihren Eltern aus Kriens nach Louisville ausgewandert war. «Mein Vater arbeitete damals in einem Molkereibetrieb und brachte der Familie seiner künftigen Frau jeden Tag die Milch.» Das junge Mädchen Anna Mary fand ihn attraktiv und verliebte sich in den Milchmann. Die beiden heirateten am 16. Oktober 1901 in der Kirche St.Martinus in Louisville und führten gemeinsam ein Lebensmittelgeschäft mit Bäckerei an der Preston Street. «Wir lebten mit der grossen, 12-köpfigen Familie in den oberen Stockwerken des Hauses. Wollen Sie wirklich wissen, wie es bei uns zuhause war? Eng. Erst lebten wir in diesem kleinen Haus mit dem Laden - das noch dort steht - und dann in einem etwas grösseren. Eine Toilette bekamen wir erst 1924.
Jetzt lebe ich hier in meinem Haus allein und habe drei WCs! Wir hatten nicht alles - aber wir hatten, was wir brauchten. Mam und Dad waren grossartig, und ich hatte eine besonders enge Beziehung zu meinem Vater. Ich erinnere mich, dass meine Eltern Schweizerdeutsch miteinander sprachen, wenn sie nicht wollten, dass wir es verstehen. Mit uns sprach niemand mehr Deutsch, und so hab ich es leider nie gelernt.» Nach der Schule arbeitete Mary Rose in einer Bäckerei und heiratete 1940, 21-jährig und mitten im Krieg, Harry Limb. «Er war damals für zwei Jahre bei der US-Navy stationiert; später haben wir zusammen fünf Kinder grossgezogen - drei Töchter, die hier in der Gegend leben, und zwei Söhne, einer in Oregon und der andere in Texas. Ich bin durch und durch Amerikanerin. Aber ich fühlte und fühle mich immer auch als Schweizerin und als Einsiedlerin.»
Nach Einsiedeln, in die Heimat ihres Grossvaters zu reisen, war für Mary Rose ein Traum! Die Enkelin des Auswanderers Jacob Schoenbaechler konnte in der Tat zweimal ins Klosterdorf reisen, 1976 und 1984. Auf einer Pilgerreise nach Rom machte sie 1976 mit ihren Schwestern Katharina und Antoinette und ihrem Bruder, dem Priester Father Charles, für drei Tage Halt in Einsiedeln. «Es war ein grosser Moment, als ich das alte Bauernhaus in der Stollern betrat, wo mein Grossvater gelebt hatte. Und in Gross waren wir im Haus der Grosstante Marie Kälin-Schönbächler in der Neumatt. Auf der zweiten Reise, 1984, blieb ich dann eine ganze Woche. Wir waren bei unserem Besuch vor allem mit den Kälins zusammen, den Verwandten meiner Grossmutter, und wohnten bei unseren Cou-Cousinen, den zwei Benediktinerinnen im Kloster Au in Trachslau - bei Schwester Waldburga und Schwester Cäcilia.»
Mary Rose hat bis heute regelmässig Briefkontakt mit Kälin-Verwandten in Einsiedeln - besonders mit den Benediktinerinnen. «Schwester Walburga hat mir viele Briefe in Englisch geschrieben, und sie konnte meine Korrespondenz dann jeweils den Verwandten rundherum übersetzen. Mit den Schoenbaechler-Verwandten traf ich bei meinen Besuchen nie zusammen. «Ich habe bis heute keinen Kontakt zu ihnen. Schade eigentlich! Wäre es nicht grossartig, wenn ich dank dieses Projekts zu den Nachkommen der Schönbächlers von der Stollern finden würde?»