Wir treffen die sechs Frauen in der Nähe der St. Matthews Mall. Im Hintergrund läuft Jazzmusik. Die Speisekarte ist recht international gehalten. Wir entscheiden uns aber für Hamburger und Budweiser Bier.
Sie erzählen von ihren Vorfahren und erklären, wie sie miteinander verwandt sind. Polly Kaelin Mackey und Ellen Kaelin Venhoff sind Schwestern. Sarah Gallagher Schoenbaechler ist ihre Cousine ersten Grades. Ihr gemeinsamer Urgrossvater ist Karl (Charles) Kaelin (b), welcher 1865 von Einsiedeln nach Louisville kam. Judy Ann Pollard Kaelin und Karen Kaelin Scully sind Cousinen ersten Grades. Sie stehen zwar wie Polly und Ellen in ihren 60ern, gehören aber zur nächstjüngeren Generation. Karl Kaelin ist ihr Ururgrossvater. Joy Kaelin Oechsli Walters stammt als einzige der sechs Frauen nicht direkt von Karl Kaelin ab. Ihr Urgrossvater war Louis Kaelin, welcher 1879 von Einsiedeln nach Louisville kam. Dennoch ist sie mit den anderen Frauen am Tisch verwandt. Eine Grosstante von Judy und Karen habe in Joys Familie eingeheiratet. «Wer unsere Verwandtschaftsbeziehungen durchschaut, hat einen Orden verdient», sagt Ellen und lacht.
Karl (Charles) Kaelin war einer von über hundert Einsiedlern, welche 1865, im ersten Jahr nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, in die USA auswanderten. 1871 heiratete er Josephina Meinrada Schoenbaechler (d), ebenfalls aus Einsiedeln, welche 1866 nach Louisville gekommen war. Judy, pensionierte Lehrerin und Familienforscherin, glaubt, dass das junge Paar von Beginn weg ein gutes Einkommen hatte. Josepha Meinrada habe es sich gar leisten können, mehrere Male zurück in die Schweiz zu reisen und kleine Gruppen von jungen Frauen bei deren Auswanderung nach Amerika zu begleiten. Eine davon war Balbina Fuchs aus Willerzell bei Einsiedeln. Sie kam 1901 nach Louisville und heiratete später August Kaelin (l), den dritten Sohn von Karl und Josepha Meinrada.
August Kaelin und Balbina Fuchs Kaelin sind die Grosseltern von Sarah, Polly und Ellen. Sarah, mit 74 Jahren die Älteste in der Runde, erinnert sich noch gut an sie. Ihr Grossvater August, 1882 in Louisville geboren, habe wohl ein etwas idealisiertes Bild von Einsiedeln gehabt. «You can go to heaven or you can go to Einsiedeln», also: du kommst entweder in den Himmel oder nach Einsiedeln, habe er häufig zu ihr gesagt, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Ihre Grossmutter Balbina aus Willerzell habe in all den Jahrzehnten in Amerika nie Englisch gelernt, sagt Sarah. Weshalb auch? Die deutschsprachige Gemeinschaft in Louisville war gross damals, und geheiratet wurde in der Regel innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Viele Paare hätten sich bei den Tanzanlässen kennengelernt, die von den Schweizer Vereinen organisiert wurden, sagt Judy. Das seien alles mehr oder weniger arrangierte Heiraten gewesen. Als Karens Grossvater zu Beginn des Jahrhunderts eine Irin heiratete, war das in der Schweizer Gemeinschaft ein Skandal.
Die sechs Frauen haben sich viel zu erzählen und lachen häufig herzhaft. Mitglied in einem der lokalen Schweizer Vereine waren sie allerdings nie. Und in Einsiedeln, dem Herkunftsort ihrer Vorfahren, den «homelands», wie Judy es nennt, war noch keine von ihnen.